Lebenslauf der Oberprimanerin Hildegund Albrecht

Am 6. Oktober 1909 wurde ich in Madrid geboren. Mein Vater war Pfarrer an der dortigen deutschen, evangelischen Gemeinde. Die erste Zeit meines Lebens brachte ich hauptsächlich auf unserem Pfarrgrundstück zu, kaum, dass ich einmal mit meiner Mutter zu Großmutter ging. Durch einen kleinen Garten hatten wir auch die Möglichkeit, uns im Freien aufzuhalten ohne Gefahr zu laufen, unter Wagen oder Autos zu kommen.Lebenslauf S.1So bin ich, wie meine Geschwister, geradezu ängstlich von meinen Eltern behütet worden. Da diese auch die Kontrolle hatten über unseren Verkehr, so konnten sie alle schädlichen Einflüsse von uns fernhalten. Zuhause waren wir völlig frei, konnten tun und lassen, was wir wollten, wenn es nicht gegen unser Gewissen ging oder gar zu unvernünftig war.

Als ich 6 Jahre alt war, bekam ich meinen ersten Unterricht bei meiner Mutter. Auf diese Weise hatte ich noch ein Jahr länger recht viel freie Zeit. Mit 7 Jahren wurde ich in die damalige Realschule zu Madrid eingeschult. Von den vielen Menschen, die ich dort sah, wurde mir ganz wirr, und ich klammerte mich ängstlich an meine ältere Schwester, kam aber deswegen zu meiner Klasse in kein rechtes inneres Verhältnis.Lebenslauf S.2

In der Schule war ich vollkommen Durchschnitt, fiel weder durch Fleiß noch durch Faulheit, weder durch Begabung noch durch Dummheit auf, höchstens durch einen ziemlichen „Dickkopf“, dass ich lieber mit der linken als mit der rechten Hand schrieb,- was mir schnellstens und energisch abgewöhnt wurde – und durch ein verhältnismäßig „gutes“ Betragen. Dies war aber kein Verdienst von mir, es erklärte sich nur daraus, dass mein Vater zweimal wöchentlich in die Schule kam, um Religionsstunden zu geben. Es wurden ihm dann immer unsere Schulvergehen erzählt. Da er dann immer sehr ernst mit uns sprach, glaubten wir, ihm sehr weh getan zu haben. So betrug ich mich fortan aus Rücksicht auf meinen Vater, den ich sehr lieb hatte, musterhaft, wenn ich die Schule auch damals nicht liebte.

Lebenslauf S.3Interesse an der Schule bekam ich erst, als nach dem Kriege neue Lehrer nach Madrid kamen, manche alten sich zur Ruhe setzten und überhaupt ein neuer Geist aus Deutschland bei uns einzog. Deutschland erschien mir zu der Zeit als höchstes Ideal, alle in Deutschland mussten gut sein, Spanien gegenüber war ich sehr kritisch. Das einzige Gute in diesem Lande war mein Zeichenlehrer, der ein tüchtiger Künstler, aber kein Lehrer war, der mir aber doch eine Liebe zur Bildenden Kunst weckte. Die Schule war in der Zeit, obwohl sie den größten Teil des Tages ausfüllte, kein Lebenszweck für mich. Ich fühlte mich vielmehr berufen, meine Geschwister in jeder Richtung zu beherrschen. Es gelang mir auch ganz gut, da meine ältere Schwester sich meistens nicht an unseren Spielen beteiligte. Das dauerte nun bis zum Tode meines Vaters, wo dann vieles anders wurde. Die Amtswohnung mussten wir verlassen. Da entschloss sich meine Mutter, mit uns nach Deutschland zu gehen, ein Entschluss, den ich jetzt, wo ich etwas älter bin, immer mehr bewundere. Damals war mir alles recht.

Lebenslauf S.4Ich war durch den Tod meines Vaters vollkommen aus dem Gleichgewicht gebracht worden. Bald freute ich mich auch, aus Madrid, welches so viele traurige Erinnerungen für mich hatte, fortzukommen. Dann ging ich auch vielem Neuen entgegen. Ich freute mich schon in Gedanken an den “Märchenwald“, an unbegrenzte Freiheit, an Eis und Schnee und an noch allerlei. Da war nun das erste Erlebnis in Deutschland eine große Enttäuschung. Ich hatte fast das Gefühl, belogen worden zu sein. Es war absolut kein Märchenland, sondern ein ziemlich reales Land. Es gab keine Sonne, keinen blauen Himmel, keine Wärme und keine Wohnung. Dazu kam noch die Trauer um meinen Vater, und Sehnsucht nach der Mutter und den Geschwistern, die im ganzen Land zerstreut wohnten. Ich war froh, als ich Michaelis 1923 in Potsdam auf die Oberrealschule kam, hatte ich so doch endlich wieder meine bestimmte Arbeit und nicht mehr soviel Zeit, unnötig zu grübeln. Die Verhältnisse auf einer deutschen Schule hatte ich mir zwar schöner vorgestellt, doch gewöhnt man sich an alles.

Die Kirchen in Potsdam waren mir auch – wenn ich an die MadriderLebenslauf S.5 Verhältnisse dachte – sehr fremd. Schon ganz äußerlich wirkten die barocken Bauten abschreckend auf mich, und eine Kirche wie die Nikolaikirche, bei der mich der Stil durchaus anzog, kam mir durchaus nicht kirchlich vor. Den weiten Raum hätte ich mir lieber mit schöneren Menschen als mit alten Mütterchen mit abgeschabten Gesangbüchern gefüllt gesehen.

Als wir aber im nächsten Mai eine Wohnung bekamen, schien mir die Welt verwandelt. Allmählich ging mir auch Verständnis für die Schönheiten von Potsdam auf und ich fing an, mich hier wohl zu fühlen. In die Schule hatte ich mich auch besser eingelebt, als ich im Anfang gedacht hatte. Ich merkte bald, dass wir hier nicht nur Bücherweisheit holen sollten. Wir lasen Schiller und ich verstand vieles. Ich begriff im „Wilhelm Tell“ die Liebe der Schweizer zu ihrem Vaterland, denn ich hatte die erste Enttäuschung, die mir Deutschland gebracht hatte, überwunden und fühlte nun, dass aus diesem Lande und keinem anderen Luther und Friedrich der Große hatten hervorgehen können. Die „Jungfrau von Orleans“ nahm ich mit überschwänglicher Begeisterung auf. Lebenslauf S.6Mathematik und Physik fingen nun auch an, für mich einen Sinn und Inhalt zu bekommen und sind nun zu meinem hauptsächlichen Interesse geworden.

In Obersekunda fing nun ein ganz anderes Leben in der Schule an. Viele Menschen, die mir nicht sehr angenehm gewesen waren, wohl auch nicht auf die Oberstufe gehörten, gingen ab, und man fühlte, dass wir alle vorwärts wollten. Wir sollten nun auch bewusst zu Menschen gebildet werden und in jedem Fach den Weg zu einer Weltanschauung finden. Einige Zeit nun bin ich sehr stolz auf das „Mensch-Sein“ gewesen, und zwar als „Mensch mit seinem Widerspruch“. Hierdurch wurde weder ich noch sonst irgendjemand glücklich und ich war doch froh, als mir dieses Jahr in Weimar die Erkenntnis aufging, dass das Ziel der Menschen, das Streben nach Harmonie sei, und dass der Widerspruch eine zu bekämpfende Schwäche sei. Zur Jugendbewegung habe ich eine sehr wechselnde Stellung gehabt. Von den Idealen wurde ich sehr angezogen, von den Menschen, die diese vertraten, teilweise abgestoßen. Ich habe mich wohl nicht genug unterordnen können, um Gefallen an diesen zu finden.Lebenslauf S.7

Als schriftliche Wahlfächer habe ich mir Physik und Englisch ausgesucht, als mündliches Wahlfach dachte ich Physik zu nehmen. Ich bin evangelisch und bitte, einen diesbezüglichen Vermerk in mein Reifezeugnis aufnehmen zu wollen. Ich gedenke später Mathematik und Naturwissenschaften zu studieren.

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