In einer Niederlassung von Osram in Madrid war durch den Krieg ein deutscher Werkmeister, Herr Borzischowsky, und mehrere deutsche Vorarbeiterinnen festgehalten worden, sehr nette, junge Mädchen. Die lud sich Tante Lieschen mal ein und sie machten sich mit viel Freude Kartoffelpuffer in der Küche. Dann luden sie die Familie Polle zu einer Wanderung ins Gebirge ein. Herr Polle war ein kleines Männchen mit einer hohen Fistelstimme, Frau Polle trug einen Tituskopf, eine sehr kurze, sehr strubbelige Kurzhaarfrisur, war groß und kräftig und mit einer Bassstimme beschenkt. Frl. Polle war ein kleines beinahe Nichts, wie ihr Papa. Das Ehepaar hatte dauern Meinungsverschiedenheiten. So zankten sie sich zu Beginn der Fahrt, ob das Licht im Tunnel brennen würde oder nicht. Die matte kleine Zündflamme brannte, das Licht flammte aber nicht auf. Trotzdem riefen beide, als sie in den Tunnel fuhren: ”Siehst Du!”
In Cercedilla ging die Wanderung los. Der kleine Herr Polle schleppte den dicken Rucksack. Da bat er seine Frau mal nachzusehen, es rieselte ihm so heiß über den Rücken. Die Frau wusste aber ganz genau, dass er nur schwitzte. Da half ihm kein Klagen. Als wir dann endlich Rast machten, stellte sich heraus, dass die Flasche mit dem Kaffee aufgegangen und restlos ausgelaufen war. Tanti kam wenig erbaut von dieser Exkursion zurück. Polles wanderten gerne im Gebirge. Da liefen sie auch mal nach Granja. Dort ist ein Barockschloss im Stile von Versailles mit herrlichen Wasserkünsten. Die können aus Mangel an Wasser aber nur einmal im Jahr in Betrieb genommen werden und dann auch nur ein Springbrunnen nach dem anderen für kurze Zeit. An diesem Tag war das damalige Königspaar in diesem Schloss. Polles wanderten ihrem Ziel zu. Frau Polle hatte ein Wanderkostüm aus London, eine Kniebundhose und einen Rock, den man auch als Cape tragen konnte. So trug sie ihn, um forsch auszuschreiten. Da hörten sie das Signal des königlichen Autos. Sie gingen zum Straßenrand und Frau Polle machte in diesem Aufzug den schönsten Hofknix, den sie in der Tanzschule gelernt hatte. Die Königin ließ halten und gab den komischen Gestalten huldvoll eine Audienz auf der staubigen Landstraße. Die Königin erzählte ihren deutschen Kammerfrauen von diesem vergnügten Erlebnis, und diese meinen Eltern, Polles in ihrer Version auch. Da gab es viel zu lachen.
Die deutschen Kammerfrauen waren zwei Schwestern aus Darmstadt, als Kindergärtnerinnen ausgebildet. Die Ältere war zur kleinen Prinzess Battenberg, Verwandte des engl. Königshauses, nach England gekommen, war dann weiter Erzieherin, Gesellschafterin und Vertraute gewesen. Als nun das sehr junge Prinzesschen den König von Spanien heiraten sollte, fürchtete sie sich so vor der Fremde, dass die Eltern ihr die Greta Planz als Vertrauensperson mitgaben. Sie hatte dann die Kleiderkammer der Königin unter sich und hatte an hohen Festen auch die Verantwortung für die Kronjuwelen. Die Arbeit wurde Greta aber zu viel und so wurde ihre Schwester Anna dazu engagiert. Sie waren als Vertrauenspersonen tüchtig einsam. Aber damals galt es noch als selbstverständlich, dass in evangelischen Pfarrhäusern nicht geklatscht wurde, und so bekamen die Damen die Erlaubnis, mit uns zu verkehren. So gehörten sie schließlich mit zur Familie und zu Tantis Freundinnen, obwohl viel älter. Sie haben uns viel geholfen. Mit ihrem Deputat an Kleidung sowohl, wie mit ihren Frühstückseiern, die sie uns brachten. Auch bekamen wir wöchentlich eine Dose Bratenfett, das in der Schlossküche anfiel, zu Ostern rote und goldene Eier, auch aus der Schlossküche, und sie machten uns Kindern zu Weihnachten, zum Geburtstag und uns allen zu Annlieses Geburtstag viele große Geschenke.
Aber nicht deswegen hatten wir sie so gern, sondern als Persönlichkeiten. Sie waren sehr freundlich, sehr gepflegt, hatten einen wunderbaren Duft, sicher ein Pariser Parfüm. Mit uns haben sie sich auch auf das freundlichste abgegeben. Ich denke voll Dank an sie. Tante Greta wurde Patin von Friedrich Wilhelm und Gretel, Tante Anna von Anneliese und stand Hans Heinrich sehr nahe. Sie besuchte auch Tante Lieschen in Grenz.
Für uns war es sehr schmerzlich, als Tante Lieschen zu den Großeltern zurückfuhr. Tante Lieschen benutzte mit einigen deutschen Lehrern und anderen Personen, die durch den Krieg in Spanien aufgehalten worden waren, die erste Reisemöglichkeit. Sie fuhren mit einem holländischen Schiff von Vigo nach Amsterdam und dann weiter nach Deutschland. Die Schiffreise war nicht ohne, denn das Meer war hier und da noch vermint. Wir waren froh, als die Nachricht kam, dass alles gut gegangen war. Es war auch höchste Zeit, dass sie nach Hause kam und der Großmutter bei der Pflege des kranken Großvaters half. Sie litt im Winter sehr unter offenen Frostbeulen an den Händen und tiefen blutenden Fissuren an den Fingern.
Die Feste bereitete sie mit viel Liebe vor. Ganz in ihrem Element war sie zu Vaters Geburtstag, wenn am Abend Gäste kamen. Da waren die Herren vom Kirchenrat, einige Freunde und die Madrider Geschwister meiner Mutter. Da wurde ein Fässchen Bier angestochen und schöne Salate und belegte Brötchen dazu gereicht. Im Hochsommer also, am 13. Juli, war es dann abends auf dem Hof schön kühl und wir guckten heimlich, still und leise aus dem Schlafzimmerfenster und dem Balkon zu. In der Woche nach Weihnachten kamen die deutschen Lehrer einen Abend zu uns, um in ihrer Einsamkeit deutsche Weihnachten zu feiern. Da gab es auch Tantis schöne Platten und Glühwein. Da konnten wir leider nur am Fußboden unseres Schlafzimmers lauschen, was bald zu kalt wurde.
Tanti erzählte von ihrem Vater, der leicht in Zorn geriet, wenn es nicht nach seinem Willen ging. So fand er mal sein Mützchen nicht, das er immer auf seinem etwas kahlen Kopf trug. Da rief er voller Zorn: ”Wenn ich die finde, lege ich sie auf den Hackklotz.”
Er machte mal Besorgungen in Pasewalk. Seinen Schirm hatte er vorsorglich mitgenommen, und richtig, auf dem Weg nach Hause geriet er in einen Wolkenbruch. Sein Schirm hatte ein Patent und war auf Knopfdruck nur zu öffnen. Er drückte aufs Knöpfchen, aber es tat sich nichts. Das Patent versagte und der Schirm blieb zu. So musste er denn unbeschirmt nach Hause gehen. Da traf er eine Bekannte, die in umgekehrter Richtung auch vom Regen überrascht worden war. Die sagte zu ihm: ”Herr Albrecht, warum machen Sie denn ihren Schirm nicht auf?” Da antwortete er nur mit zornbebender Stimme: ”Weil ich nicht will.”
Tanti konnte aber auch in Zorn geraten. Da war Liese Neufeld bei uns. Sie wird so um 18 Jahre alt gewesen sein und war bei uns in Pension. Sie sollte Konfirmandenunterricht bei Vater haben und konfirmiert werden. Sie wohnten in Santurce, einem kleinen Ort bei Bilbao hoch im Norden, und hatte nicht eher zum Unterricht kommen können. Ihre Mutter war eine perfekte Hausfrau, stammte aus einer Bauernwirtschaft. Die hielt sich Vieh und kochte wunderbar. Sie kombinierte deutsche und spanische Methoden in geradezu künstlerischer Vollendung. So machte sie wunderbaren an der Luft getrockneten Schinken. In Spanien wäre Schinken für uns unerschwinglich gewesen. Lise war gut von ihrer Mutter angelernt. Da wurde das große Stück Schweinskeule erst mal gepökelt und dann sollte es an einem ”luftigen Ort” eine bestimmte Zeit zum Trocknen aufgehängt werden. Tanti bewohnte bei uns ein Giebelzimmer, rechts unter der Schräge war ein dunkler Wandschrank, ihr Kleiderschrank, eingebaut. Links von ihrem Zimmer war ein luftiger Bodenraum, der 1/3 des Giebels einnahm. In diesen sollte nun die Delikatesse zum Trocknen gehängt werden. Mutter beauftragte nun eines der Kinder, Lise die Kammer zu zeigen. Was weiß aber so ein Kind von rechts oder links? Jedenfalls landete der Schinken in Tante Lieschens Kleiderschrank. Unten fragte Mutter die Lise, ob es nicht ein idealer Platz wäre. Lise sagte nur zu Mutters Erstaunen: ”Wenn Sie nichts Besseres haben, dann muss es mal so gehen.” Da kam schließlich Tanti am Abend herauf und wollte sich umziehen. Da klatschte ihr der nasse Fleischklumpen ins Gesicht. Da bekam sie keinen schlechten Zorn und war so aufgeregt, dass Mutter erst mal nichts begriff. Dann staunte sie nur, dass Lise ihr nichts gesagt hatte. Die hätte es doch eigentlich merken müssen, dass ein Kleiderschrank kein ”luftiger Ort” war, und der Schinken da bestimmt verschimmelt und verfault wäre.
In Grenz hat sie dann unheimlich gearbeitet, vor der Sonne war sie auf und spät ging es ins Bett, um unter primitiven Verhältnissen das Vieh zu versorgen und Garten und Feld zu bestellen.