Erinnerungen an die Verwandschaft meines Vaters (Hildegund Möller)

Die Großmutter war sehr hilfsbereit und stellte ihre geschickten Finger oft in den Dienst des Nächsten und half, wo größte Armut war. Die Landarbeiter waren sehr arm und konnten bei Todesfällen die Heimbürgerin nicht bezahlen. Da half die Großmutter oft, die Leiche zu waschen und bettete sie auf das schönste mit vielen Blumen und Grün aus dem Garten. Besondere Mühe gab sich bei verstorbenen Kindern. Sie hatte immer ein Myrtenstämmchen im Fenster und die kleinen Mädchen bekamen ein Myrtenkränzchen auf das Köpfchen.

Tante Lieschen hat das als Kind, sie wird wohl bei Beerdigungen geholfen haben, zumindest das Werk bewundert haben, als großes Fest erlebt und freute sich auf einen schönen Eichensarg und ihren Jungfernkranz. Sie hat immer auf die Beerdigung gespart, aber bei ihrem Tod war in Prenzlau kein Eichensarg zu haben, eine Woche später wurden wieder solche geliefert und Onkel Hans war mit sich uneins, ob er sie noch einmal exhumieren sollte, und in einen Eichensarg legen. Er sah aber ein, dass Tante Lieschen darüber wohl mehr erschrocken als erfreut wäre. Mir tat es auch noch leid, dass ich damals keine Myrte auftreiben konnte.

Großmutter hatte sich ein neues Kleid genäht. Das musste erst in der Kirche eingeweiht werden. Es wurde auch ganz knapp vor dem Gottesdienst fertig. Damals waren Taschen in den weiten Röcken. Der Rock schloss hinten und in diesem Schlitz war die Tasche aus schönem hellen Futterstoff zum dunklen Kleid befestigt. Die Taschentücher waren damals sehr groß. So waren die Taschen prall gefüllt und beim eiligen Anziehen rutschte sie aus dem Schlitz. Sie merkte es nicht und stürzte schnell zur Kirche. Beim ersten Vers schritt sie nach vorn, da sie schwer hörte, um viel von der Predigt zu verstehen, und die Tasche wedelte wie ein Hasenschwänzchen hinten auf dem dunklen Rock. Tante Lieschen konnte Tränen lachen, wenn sie es uns erzählte. Die Großmutter hat die Tasche noch vor dem Mittagessen in einer Seitennaht befestigt. So wie ich Tanti kennen gelernt habe, hat sie es der Mutter wohl gleich gesagt, so bald sie es sah, aber es hätte so werden können.
Vor Weihnachten ging Tante Lieschen oft zur Nachbarin und häkelte eine schöne Spitze für einen Unterrock, den sie der Mutter schenken wollte. Nun war die Großmutter ein bisschen neugierig, was Tante Lieschen da so heimlich machte. Die Nachbarin aber sagte nur: ”Lieschen hat ein Geschenk für sie, was sie dringend brauchen können”. Da schämte sich die Großmutter am heiligen Abend schrecklich, dass die Nachbarin vermutete, dass sie einen Unterrock dringend brauche! Die schöne Arbeit kam garnicht zur Geltung.

Tante Lieschen half, als sie aus der Schule gekommen war, ihrer Mutter im Haushalt und bei der Heimarbeit. Der Verdienst floss in die Haushaltskasse, sie hatte aber kein Taschengeld. Diese Abhängigkeit behagte ihr schließlich nicht mehr und sie ging dann erst in Papendorf bei Pastor Kaemas und in Pasewalk in einer Offiziersfamilie in Stellung.

Nun ging es Mutter so jämmerlich. Da Tanti nun nicht mehr zu Hause half, bat Vater sie, ob sie nicht zu uns nach Madrid zum Helfen kommen könnte. Der Großmutter war das recht, es sollte ja auch nur bis1915 sein, und sie hoffte, Tanti könnte bei uns einen guten Mann kennen lernen. Es ist auch alles so gut gegangen, wie es nur sein konnte. Wir haben sie sehr lieb gehabt.

HIldegund mit ihrer Schwester Marialuise und den Großeltern vermutlich in Pasewalk
HIldegund mit ihrer Schwester Maria Luise und den Großeltern vermutlich  1910 in Pasewalk

1910 waren die Eltern mit Maria Luise und mir in Pasewalk gewesen und Tante Lieschen hatte von der 3 jährigen Maria Luise Spanisch lernen wollen. Als sie nun allein durch Frankreich und Spanien reiste, erinnerte sie sich nur an das Wort ” escarnicasco”, was zwar dankeschön heißt, aber leider nicht auf spanisch, sondern auf baskisch, denn die Eltern hatten die Reise 3 Tage lang in Fuenterabia an der Biscaja unterbrochen, und da hatte es Maria Luise aufgeschnappt. Aber mit freundlichem ”escarnicasco” kam Tanti behütet in Madrid an. Ich erinnere mich noch gut an den Morgen, als sie da war. Sie hatte ein perlenbesticktes Haarband um ihren falschen Zopf gelegt. Diese Frisur gab sie aber bald auf und trug ihr Haar eingeschlagen.

Einmal fanden wir einen schönen weißen Stein, der wie eine Zuckermandel aussah. Ich liebte Steine sehr und hob ihn auf. Tante Lieschen strickte sehr genau und bekam zum Geburtstag ein Wunderknäuel mit vielen niedlichen und nützlichen Sachen drin. Sie hatte noch nie eins gehabt und freute sich sehr. Aus Übermut hatte Mutter auch meinen hübschen Stein mit hineingewickelt. Man soll aber niemanden auf lange Sicht necken. Mutter war mit uns Großen zu ihrer Mutter gegangen. Sie fand selten genug Zeit dazu. Tante Lieschen saß bei den ”Kleinen” und Gottfried war unglücklich. Da tröstete sie ihn und versprach ihm den ersten Bonbon, der aus dem Knäuel fiele. Und das musste nun der dämliche Stein sein. Gottfried bekam ihn in den Mund und spuckte ihn zum Glück gleich entsetzt aus. Tante Lieschen war schrecklich enttäuscht, dass sie eine Freude hatte machen wollten und es ihr durch unsere Schuld misslungen war. Unter anderen Umständen hätte sie gelacht und bestimmt den nächsten mal mit geneckt.

Onkel Hans sagte, sie hätte Kinder nicht gemocht. Davon haben wir nichts gemerkt. Wie schön konnte sie die Märchen von Musäus und Bechstein erzählen, wie hat sie mit uns gespielt, mit unseren Puppengeschirr gekocht und aufgetragen. Und dann machte sie Taubenschießen mit uns. Eine große Kartoffel wurde auf einen Besenstiel aufgesteckt, bekam eine kleine Kartoffel als Kopf, Goldpapierfahnen als Flügel und Schwanz und viele Bonbons als Federn. Das ganze Gebilde wurde in einem Blumentopf festgemacht und mit einem Holzscheit beworfen. Was abfiel, gehörte dem glücklichen Schützen. Schützenkönig wurde der, der die große Kartoffel abwarf. Die musste aber oft gelockert werden, bis es endlich glückte. Auch in Grenz sind wir gern bei ihr gewesen. Rührend war, wenn sie sich zum Geburtstag einen neuen Kochtopf für unseren Haushalt wünschte.

Einen Mann fand sie in Madrid nicht. Wir hatten immer gehofft, dass Herr Feodor Tamme, unser geliebter Lehrer, sie heiratete, und ich glaube, es hätte von beiden Seiten geklappt, wenn seine Mutter, der er sehr ergeben war, nicht in Dresden eine Frau für ihn ausgemacht hätte.

Der Krieg brach Anfang August 1914 aus. Da waren die Lehrer der deutschen Schule auf Heimaturlaub in Deutschland, aber einige Deutsche waren als Touristen in Spanien und wurden durch den Krieg dort festgehalten. Die wurden dann unsere Lehrer gegen ein minimales Gehalt, da die Unterstützung aus Deutschland nicht durch kam. Herr Tamme gehörte dazu. Er mietete mit einem 2. Kollegen, war es Herr Krimse, war es Herr Schöllauf, bei einer Spanierin ein winziges Zimmer. Kritisch wurde es, als es kalt wurde, denn die Herren hatten doch nur ihr Touristengepäck für den Sommer mit. Einer von den Beiden erhungerte sich ein paar neue Schuhe, der andere einen Anzug. Da kam die Nachricht von einem Sieg. Die Lehrer sollten sich zur Feier fein machen. Da entdeckten die Herren, dass der Sohn der Wirtin ihre neuen Kleidungsstücke anzog, wenn sie in der Schule arbeiteten. Bei so einem Einkommen konnte man keinen Hausstand gründen.

Im Schönschreibunterricht bei Herrn Tamme fiel mein Federhalter hin und die Feder verbog und spaltete sich. Ich weinte über die Ausgabe, die mein Vater nun wieder hatte und Herr Tamme bog und drückte so lange an der Feder herum, bis man wirklich wieder gut schreiben konnte. Das war der erste Liebesdienst, den ich bewusst in der Schule erlebte. Sonst schätzte ich die Schule wenig und man mich dort auch nicht.

Tante Lieschen wurde mit offenen Armen von Mutters Mutter und Geschwistern aufgenommen. Ohne sie hätte Mutter ihren Pflichten als Pfarrfrau und Mutter kleiner Kinder kaum gerecht werden können.

Schreibe einen Kommentar