Das Ehepaar dachte sehr fortschrittlich. So durfte die Tochter Louise den Beruf einer Putzmacherin lernen. Der Schwiegersohn, der dieselbe Laufbahn wie er einschlug, war ihm willkommen. Diese Großeltern wurden von meinem Vater und seinen Geschwistern herzlich geliebt.
Eines Abends geschah ein Unglück. Wenn Fuhrwerke kamen, hatte er einen Schlagbaum zu öffnen und das Chausseegeld zu kassieren. Damit er nicht bei jedem Wetter heraus musste, konnte er den Schlagbaum von der Wohnung bedienen, nachdem er mit einem Beutel an einem langen Seil das Geld kassiert hatte. Die Post kam regelmäßig am späten Abend durch. Da hörte er um diese Zeit das erwartete Pferdegetrappel. Er steckte den Beutel zum Fenster hinaus und da sah er, dass es ein einzelnes Pferd war. Es hatte beim Einspannen gescheut und war durchgegangen und kam beim Anprall auf die Schranke zu Tode. Das ist ihm lange nachgegangen.
Er starb 80- jährig in Papendorf. Der Arzt wollte ihm etwas gegen die Schmerzen geben, aber er verbiss sich den Schmerz und lehnte ab. Als der Arzt den Totenschein ausstellte, sagte er zur Familie, dass nur Soldaten die Schmerzen, die der alte Herr gehabt hatte, so ertragen könnten.
Seine Witwe lebte noch 20 Jahre bei der Familie der Tochter Louise in bestem Einvernehmen. Sie hatte einen besonderen Bund mit unserer Tante Lieschen, die 1887 gestorben ist. Die Kleine schlief immer bei ihr und die alte Frau empfand die Wärme des Kindskörpers besonders angenehm. Tante Lieschen litt sehr früh an vorzeitigen Alterserscheinungen, verlor bald die Zähne. Unser Vater fürchtete, dass es damit zusammenhängen könnte. Die Urgroßmutter hatte viel Humor, obwohl sie tüchtig taub wurde. Eines Morgens sagte sie: ”Wie habe ich so schön geträumt. In meinem rechten Ohr sangen die lieben Engelchen Halleluja.” Der Tochter wurde es ganz feierlich und sie erwartete den Tod der Mutter, da sagte diese weiter:” Auf dem linken Ohr da flüstern die Teufelchen Backapfel, Backapfel”. Den Arzt hielt sie ganz schön zum besten. Das war dem Arzt nicht recht und er sagte ihr, Kaffee wäre ein langsam wirkendes Gift.” Das muss wohl war sein, denn ich bin ja schon 89 Jahre alt”, antwortete sie. Wurde ihr Arznei verordnet, musste Tante Lieschen kosten. Schmeckte sie gut, teilte sich Großmutter und Enkelin den Saft, schmeckte er schlecht, musste Tante Lieschen die Flache über die Scheune fortwerfen.
Die Eltern unserer Großeltern hatten durch die vielen Dienstjahre des Urgroßvaters ein auskömmliches Gehalt und haben ihrer Tochter viel geholfen.
Die Tochter, unsere Großmutter Louise Albrecht, war ein fixes, temperamentvolles Mädchen. Als sie mit anderen Mädchen zusammen in der Lehre war, gab es mal dicke Erbsen. Beim lustigen Erzählen stieß sie gegen den Teller und die Suppe wäre fast auf den Schoß gekippt, da sprang sie auf und konnte die Bescherung noch mit dem Teller auffangen ohne auch nur einen Spritzer abzubekommen, eine richtige Zirkusnummer. Auf sie wartete ein hartes Leben. Es war gut, dass sie damals schon einen Beruf gelernt hatte.
Sie heiratete am 18.6.1875 den Polizisten Albert Albrecht in Berlin. Im Verlauf des Kulturkampfes wurde in Preußen am 1.10.74 der Kirche das Recht entzogen, Ehen zu schließen, und wurde den staatlichen Standesbeamten, die die Personenstandsregister von dann an zu führen hatten, übertragen. So wurde der Hochzeit zunächst alle Feierlichkeit genommen. Das 20 jährige Louischen verabschiedete sich in Pasewalk von ihren Eltern und fuhr allein mit der Eisenbahn nach Berlin, wo sie ihr Albert abholte, zum Standesamt brachte und in die Wohnung, die sie sich einrichteten. Sie hatte schöne Möbel, einen Sekretär, das Meisterstück ihres Bruders, bekam sie von diesem zur Hochzeit geschenkt. Die kalte Pracht war wunderschön eingerichtet. Es ließ sich zunächst alles sehr gut an. Unser Großvater hatte, wenn er dran war, Theaterdienst und durfte seine junge Frau mitnehmen. Das war so das Richtige für sie, eine große Freude, von der sie noch als alte Frau zehrte. Dann erwartete sie unseren Vater und erkrankte in der Zeit an Typhus. Da lag sie nun Mutterseelen allein meistens in schwerer Benommenheit und, wenn sie mal klarer war, schluckte sie die Medizin gleich aus der Flasche. Wie Mutter und Kind diese Zeit ohne Schaden überstanden hatten, ist ein Rätsel. Das Kind kam zur rechten Zeit aber ziemlich zart auf die Welt, bald danach das Töchterchen Johanna. Sie wohnte in einem hohen Mietshaus ganz oben. Unten war eine Bäckerei. Da kamen die kleinen Geister auf den Gedanken, unten ein Brot einzukaufen. Zusammen konnten sie es gerade tragen und wuchteten das frische Brot von Stufe zu Stufe bis oben hin. Es hatte sich ziemlich verändert. Die Großmutter, die das Brot nicht bestellt hatte, schickte die Kinder wieder hinunter und hat die Sache dann mit der Bäckerfrau wieder in Ordnung gebracht. Die hat aber so witzigen Kindern kein Brot mehr verkauft, und die hatten auch genug vom Einkaufen. Zum Haushalt gehörte der Hund Ami. Da kam eine Dame zu Besuch und die beiden Frauen saßen beim Kaffee auf dem Sofa. Das Hündchen hatte sich eingeschlichen und unter das Sofa verkrochen. Da gab es immer wieder unfeine Töne und die Luft wurde auch nicht frischer, aber niemand ließ sich was anmerken. Da kommt doch Ami unter dem Sofa vor und beide Damen sagen gleichzeitig:” Ach du bist das gewesen!” Solche Geschichte erzählte Großmutter und amüsierte sich königlich.
Nun ließen sich alle Leute standesamtlich trauen und brauchten die Kirche nicht mehr. Das ging Majestät auf. Es war ja auch schade, dass die Ehen auf den Segen verzichten sollten. So sollten nun alle Paare die kirchliche Trauung nachholen. Die Beamten sollten mit gutem Beispiel vorangehen und wurden zu gegebenen Terminen zu Massentrauungen befohlen. Die Großmutter hatte ein ganz komisches Gefühl und wusste nicht. Ob sie nun schon verheiratet gewesen war oder in wilder Ehe gelebt hatte. Dem Großvater kam es auch nicht gerade feierlich vor.
Da brach ein Schicksalsschlag über die junge Familie herein. Bei der Verfolgung eines Verbrechens bekam unser Großvater einen Lungenschuss, von dem er sich nicht mehr erholte. Von da an bekam er Invalidenrente, die sehr klein war. Nun musste die Großmutter sehen, wie sie die Familie durchbrachte. Da kam ihr der erlernte Beruf zugute. Sie zogen in die Nähe der Eltern nach Pasewalk oder Papendorf. Vater ist von Papendorf nach Pasewalk zur Schule gelaufen. Auch Tante Lieschen und Onkel Hans sind in Papendorf zur Schule gegangen. Die Großmutter machte in Heimarbeiten Gold- und Silberstickerei für das Militär, Achselstücke, Schwalbennester usw. Einmal bekam sie auch den Auftrag, eine Regimentsfahne für das Regime ” Königin Luise ” zu sticken. Da musste ein großes schlankes L über die ganze Fahne appliziert werden. Sie schnitt es mit aller Sorgfalt zu, aber der zarte Stoff verzog sich. Da gab es Ungenauigkeiten in der Arbeit. Am liebsten hätte sie alles noch einmal gemacht- aber das Material war unerschwinglich. Die Fahne ist abgenommen worden, aber wenn sie sie bei einem Vormarsch sah, schämte sie sich in der Tiefe ihrer Seele. Das Liefern der fertigen Ware und das Abholen des Materials ist von Papendorf aus sicher nicht leicht gewesen. Papendorf hatte aber den Vorteil, dass sie dort Gartenland pachten konnte, Kartoffeln anbauen, ein Schweinchen großziehen, Hühner und Kaninchen halten konnte, was bei 5 Kindern wirtschaftlich half. Auch konnte der Großvater, soweit seine Kräfte reichten, hierbei etwas helfen, ohne sich als Mann und Herr über Frau und Familie etwas zu vergeben.

Unser Vater hatte noch das Bild vor Augen, wenn seine Mutter mit steifen Fingern auf ihren Tritt am vereisten Fenster saß und stichelte, und sein Vater am Ofen stand und sich den Rücken wärmte und es gar nicht so kalt fand. Als Vater in die Dorfschule kam, entdeckte der Lehrer seine Begabung und besorgte ihm ein Stipendium für die Bürgerschule in Pasewalk, eine große Freude für die Großmutter- aber eine Belastung. Vater hatte im Sommer wie im Winter eine Stunde Weg bis zur Schule zurückzulegen, was für das zarte Kind schwer war. Ein Lehrer, der dort in der Schule wohnte, und seine Frau schlossen ihn ins Herz und, wenn er durchfroren ankam, durfte er sich in ihrer Stube aufwärmen und trocknen und bekam auch etwas Warmes zu trinken. Dieser Lehrer, mit dem Vater bis zu seinem Tod in Freundschaft verbunden war, sorgte dann dafür, dass der Vater ein königliches Stipendium für das Joachimsthalsche Gymnasium in Berlin bekam, wo er im Internat wohnte. Es war aber eine sehr vornehme Schule mit Schülern aus reichsten Familien. Da war es für den Vater schwer mit Kleidung, die seine Mutter nähte, und mit wenig Taschengeld neben den Mitschülern zu bestehen.
Für die Großmutter wurde es schwer. Die Trennung von ihrem Ältesten nahm sie noch dem Kind zu liebe in Kauf. Aber dem Großvater war es nicht recht, dass sie so hoch hinaus wollte mit dem einen und fürchtete für den Zusammenhalt der Familie. So hatte er noch einen weiteren Grund zu nörgeln und unzufrieden zu sein.
Neben der Heimarbeit schneiderte die Großmutter auch für Kunden. Diese Aufträge häuften sich zu den Festen. Da nahm sie aber jeden Kunden an, denn es verbesserte doch das täglich Brot. Da war sie dann zu den Festen ganz erschöpft und ausgepumpt. Sie hat es aber durchgehalten.