Die Wohnung wurde schließlich zu klein, und da kamen die neuen Waisenkinder in Etagenwohnungen, bis sie von Frauen betreut wurden. Die ersten Waisenkinder, die im Alter der Kinder der Familie waren, wurden weiter als eigene Kinder und Geschwister angesehen.
Wenn Gäste kamen, war es für unsere Mutter nicht ganz leicht. Als Älteste schlief sie auf dem Sofa im Wohnzimmer. Sie konnte aber erst schlafen gehen, wenn alles zur Ruhe ging. Wenn die Gäste lange aufblieben, dann konnte sie eben erst sehr spät ins Bett und, wenn die Kleine Me früh aufwachte, musste sie früh aufstehen. Schließlich fing sie an, Nachtzuwandeln. Endlich bekam sie eine bessere Schlafgelegenheit, als der Vater am Morgen eine abgebrannte Kerze mit Leuchter im Kleiderschrank fand.
Die ”Schulbildung”, die Mutter genossen hatte, schien dem Vater nicht auszureichen, und so kam sie nach Kaiserwerth, aufs Lehrerinnenseminar. Die Reise nach Madrid war für sie wie auch für die Brüder für die paar Wochen Ferien zu teuer, aber der Vater kam vorbei, wenn er kollektierte, nahm sie auch mal mit in den Ferien und zeigte ihr Deutschland. An diese Reisen hat sie mit Dank und Freude zurück gedacht. Es war ihm sehr bitter, dass seine Frau, die Großmutter nicht kochen konnte. Deswegen gab es wohl auch diese einseitige Ernährung.

So besprach er sich mit seinem Freund, dem Besitzer des Hotels Palmenwald in Freudenstadt, in dem Köchinnen ausgebildet wurden, dass Mutter dort kochen lernen sollte. Sechs Wochen hielten sie für genug. Die Schülerinnen dort fanden es einfach absurd, dass sie 3 Jahre lernten und die ”Feine” es in 6 Wochen schaffen sollte und trieben Schabernack mit Mutter. Mutter verstand das Schwäbische nicht und kam sich albern vor, selbst so zu sprechen. In der Küche ging es auch etwas hektisch zu, da die Gäste das sehr gute Essen auch heiß auf den Tisch bekommen sollten. Mutter hatte Dienst am Aufzug. Die Suppe stand drin. Da machte die Köchin Dampf und rief ”Zupp ruff”, bis Mutter ganz verzweifelt auch ”Zupp ruff” nach oben rief, und auf diese Zauberformel setzte sich der Aufzug in Bewegung. Dann sollte sie ein ”Häfele” für die Milch holen. Völlig ahnungslos bat sie um einen Milchhaferl und bekam einen ganz normalen Milchkrug.
Die ”Mitschülerinnen” gaben ihr einen geschlachteten Hahn, der zwar richtig tot war, aber sie hatten aus Mutwillen die Luftröhre nicht durchgeschnitten. Als sie nun die Eingeweide löste, fing das Biest zu krähen an. Mutter konnte sich beherrschen, wurde aber totenblass und machte ihre Arbeit weiter. Damit hatte sie dann endlich die Achtung der Mädchen erworben, und von da an haben sie ihr nichts mehr getan.
Schöner allerdings waren die Ferien, wenn sie jedes Mal bei einem anderen Onkel und seiner Familie eingeladen war. So lernte sie alle, die ganz große Fliednerfamilie kennen. Ein Mal war sie auch bei der Schwester ihrer Mutter, Aunt Rachel in Schottland. Da wurde sie nach Strich und Faden verwöhnt, schön eingekleidet und zum Frisör mitgenommen, der ihr schönes Haar toupierte. Sie meinte, dass hätte sie ihr Leben lang nicht aus den Haar bekommen. Es wäre immer plusterich geblieben. Wenn sie eingeladen wurde, hatte sie ein elegantes, hübsch gestricktes Täschchen mit genauso eleganten Hausschuhen, die man in Schottland als Gast mitbrachte, um keinen Schmutz in die Wohnungen zu tragen. Die Damen behielten ihre Hüte auf, und die Hausfrau, genauso elegant, setzte sich auch einen Hut auf. Aunt Rachel machte Pfefferminzplätzchen aus dem Saft der Pflanzen in ihrem Garten und schwarzen Johannisbeersaft oder Paste für die armen und alten Leute, die sie damals betreute. Ich weiß nicht, ob die Reise nach Schottland vor oder nach Kaiserwerth war.
In der Zeit, in der Mutter in Kaiserwerth war, wurde das ”Porvenir” gebaut, und der Vater verstarb an Typhus. Das war hart. Als sie das Seminar abgeschlossen hatte, bestimmten ihre Brüder, dass sie anschließend das spanische Lehrerseminar besuchen sollte, und dann in der Vorschule des Gymnasiums unterrichten sollte. Sie hat fleißig gearbeitet und auch gut abgeschlossen, allerdings bekam sie in Kaiserwerth eine glatte 1 in Handarbeit und auf dem spanischen Seminar musste sie einen ”Schwanz” nacharbeiten. Dort fing sie kostbare Handarbeiten nur an, um an jeder in der Prüfung zeigen zu können, dass die Arbeit selbst gemacht war. Aber fertig sind diese Arbeiten, die ganz wundervoll aussahen, nie geworden. Es fehlte ja dann die Zeit, als sie dann im Beruf arbeitete und bald danach in der Ehe.
In Kaiserswerth hat es unserer Mutter nicht gefallen und sie riet ihren Brüdern, die Vormünder der jüngeren Geschwister waren, Tante Käthe nicht dort hinzuschicken. Diese lernte dann gern in Bielefeld mit Tante Lina zusammen. In Kaiserwerth hatte sie es nicht so leicht. Als sie mal übermütig die Treppe runter sprang, geriet sie einer Diakonisse in die Arme, die ihr sagte: ”Ja die Fliedners bilden sich ein, sich bei uns alle Flegeleien leisten zu können“. Das ging gegen die Familienehre und traf sie hart.

Bei einer Aufführung war sie ein Prinz, aber es war schrecklich unanständig, wenn ein Mädchen Hosen trug. Deshalb standen auf der Bühne Requisiten, hinter denen der Unterkörper versteckt wurde. Auch im Sport gab es keine Turnhosen. Dabei trug man in der Zeit Hosen aus Leinen, die aus 2 Beinlingen bestanden und nur am Gurt zusammen gehalten wurden. Eine schrieb mal in einem Aufsatz: ”Wenn ich mich morgens aus dem Bett erhebe, so hat man einen wunderschönen Anblick“. Es handelte vom Sonnenaufgang. Sonntags musste eine der Schülerinnen die anderen unterhalten, z.B. Gesellschaftsspiele machen, etwas vorlesen oder etwas vortragen. Nun hatte Mutter einen Einfall. Sie erzählte von der historischen Bedeutung Kaiserwerths und kam dann auf den Witz: Durch Kaiserswerth fließt der Kittelbach. Nun machte sie klar, dass der Kittelbach und der Busento identisch wären. Bürger hätte ihm ” Braven Mann” ja gedichtet: ”Doch wahrlich höher und himmlischer schlug das Herz, das der Bauer im Kittel trug“. In anderen Gedichten würde vom Herz im Busen gesprochen. Also wären Kittel und Busen Synonyme, also auch der Kittelbach und der Busento. Die Mädchen hatten Spaß daran, und die alte Diakonisse war sehr begeistert, so etwas Interessantes erfahren zu haben. Da musste Mutter beichten, dass sie sich das ausgedacht hatte, und wurde wegen dieser groben Lüge bestraft.
In Kaiserswerth arbeitete Ohm Heinz, der keine eigenen Kinder hatte und mit seiner Frau zwei Pflegesöhne aufgenommen hatte. Die hießen allgemein ”die Pflegesöhne“. Die waren so im Alter der Seminaristinnen. Nun durften diese die Falläpfel auf der Wiese aufsammeln und essen. Wenn die Seminaristinnen spazieren gehen durften, waren die Burschen nicht fern, und wenn die Äpfel reif waren, balgten sie sich unter jedem Apfelbaum und stießen dabei so stark an den Stamm, dass die Äpfel nur so herunter fielen.
Mutters Liederbuch aus dem Seminar war auch sehr sittlich. Da stand: ”in einem Mühlengrunde, da steht ein Mühlenrad, mein Onkel ist verschwunden, der dort gewohnet hat”. Diese Fassung konnte ja keine bösen Gefühle in den Jungfrauen erwecken. Nach Vaters Tod erfuhren zwei Damen aus ihrem Kursus, dass Mutter wieder in Deutschland war, und nahmen die alte Verbindung auf und haben mir nach dem Krieg auch noch ein nahrhaftes Päckchen für unsere Kinder geschickt, weil sie ernährungsmäßig besser dran wären wie wir, eine treue Freundschaft.
Hygiene wurde damals recht klein geschrieben. Die Mädchen waren nachts in Schlafsälen unter dem Dach untergebracht. Die Betten standen in langen Reihen und neben jedem Bett ein Schemel mit einer kleinen Waschschüssel. Im Winter fror das Wasser. Wenn nur Eisnadeln darin schwammen, konnte man sich ja noch waschen, aber wenn es total durchgefroren war, musste es ausbleiben. Sonnabends durfte man sich einen Eimer warmen Wassers holen zur gründlichen Reinigung. Vater war darüber recht erschrocken. Im Joachimsthaler Gymnasium hatten sie für das Internat damals schon Wasch- Dusch- und Baderäume. Mutter war an sparsamen Wasserverbrauch gewöhnt. Später im Porvenir gab es fließendes Wasser, elektrisches Licht und Gas, im Sockelgeschoss sogar eine Badewanne!
Als die Familie auszog, wurde das Palais Eboli sofort abgerissen.