Teilweise sind auch ganz schöne Blüten bei den Lehrerinnen gewesen, vielleicht waren sie auch jung und unerfahren. Mutter hatte das lange Gedicht ”Des fremden Kindes heiliger Christ” von Rückert zu lernen. Die Kinder wurden wie in einer einklassigen Schule unterrichtet. Die Lehrerin drückte ihr das Buch in die Hand, und sie musste nun lesen und lernen. So im Ausland ist der Wortschatz kleiner. Das Gedicht hat 18 fünfzeilige Verse. Im 11. Vers kommt das Wort hergewallet vor, das Mutter völlig unbekannt war. Sie sagte das Gedicht von Anfang an richtig auf, kommt zu dem Vers und sagt: ”hergewackelt”. Die Lehrerin drückt ihr das Buch in die Hand, sie hätte einen Fehler gemacht. Sie solle ihn suchen, sagt aber nicht wo. Also muss unsere Mutter suchen und sucht und findet ihn nicht, und die Lehrerin setzt das grausame Spiel immer weiter fort, bis endlich die Zeit um war. Eine andere Dame litt an Migräne, durch den Klimawechsel besonders. Wenn sie ins Dunkle und ins Bett flüchtete, sind die Brüder ums Haus gelaufen und haben gerufen: ”Feuer, Feuer, Feuer, es brennt, es brennt, es brennt, wo denn?, wo denn? , im Ofen!” Die hieß Camilla, genauso heißt auf spanisch die Trage der Sanitäter, was dann den spanischen Kindern Lust zum Lachen machte. Als die Kinder beim Unterricht saßen, fiel ein Meteorit in die Nähe von Madrid. Es war ein eindrucksvolles Erlebnis, hell und laut, und alle waren aufgeregt und glaubten, die Anarchisten hätten das Schloss bombardiert. Die Stunde ist nicht langweilig gewesen. Den Stein sahen wir im Madrider Museum.
Mutter erinnerte sich noch gern an den Besuch ihrer deutschen Großmutter Caroline, geb. Bertheau. Sie kam in Begleitung von Muhme Flore, einer Tochter von Julius Disselhof aus Kaiserswerth. Die half dann der Großmutter mit den vielen Kindern. Das Bild, das Du, Gretel, mir schicktest, stammt aus dieser Zeit. Da versorgte Muhme Flore die Kinder beim Frühstück und strich ihnen die Brote, hatte gerade ihr Brot gestrichen, und da brauchte wieder eins der Kinder etwas. Da fiel es auf den Teller auf die Butterseite, und sie strich den Kindern wieder ein Brot, nahm dann ihres vor und strich auf die andere Seite, sodass nun 2 Seiten bestrichen waren. Als sie es merkte, entschuldigte sie sich. Bei uns hätte es tüchtig Krach gegeben. Muhme Flore sieht auf dem Bild genauso wie meine Großeltern aus, als hätte ihr doppelt Butter nicht geschadet.

(sitzend von links nach rechts Sohn Theodor, Caroline geb. Betheau, Ernst, Theodor, Riekchen;
stehend Luise Disselhoff, Fritz, Heinrich, davor Karl, Minna, Georg, davor August)
Mutter hatte am 27.1. Geburtstag, Urgroßmutter Caroline am 28.1. Mutter war aber am 28. erwartet worden. Die Brüder machten ihr nun weiß, weil sie sich so freute, mit dem Kaiser zusammen Geburtstag zu haben, die Urgroßmutter Caroline hätte gebeten, ihr doch den 27. als Geburtstag anzuschreiben, weil sie sich so darüber freute. Da hat sie mit sich gekämpft und ist dann zu den Eltern gegangen und hat gebeten, ihr doch ihren richtigen Geburtstag zurückzugeben, die Wahrheit wäre doch mehr als die Ehre, mit dem Kaiser zusammen Geburtstag zu haben. Die Brüder waren auch keine Engel. Es hat dann wohl gebumst.
Als Mutter 13 Jahre alt war, wurde das 13. Kind Maria Eleonore geboren, genannt Me oder kam es von Mary her? Die Großmutter war da schon 44 Jahre alt. Sie sollte eigentlich Gustav Adolf heißen, aber als Mädchen wurde sie nach seiner Frau genannt. Das war nun wieder ein ganz zartes Kind, und die Großmutter auch sehr verbraucht.
Damit die Familie die nötige Ruhe hatte, wurde früh, wenn das Kind jammerte, Mutter geweckt, und sie ging mit der Kleinen in den Wildpark (casa del campo). Einen Kinderwagen hatte sie nicht und trug das Kind spazieren, und auf dem Rückweg schlief es dann ein und war noch viel schwerer. Mutter kamen immer noch die Tränen, wenn sie vom Tod dieses Kindes erzählte. Ein Jahr ist es alt geworden.
Mit 16 Jahren wurde Mutter konfirmiert. Sie musste den ganzen lutherischen und den ganzen Heidelberger Katechismus auswendig lernen. Ihre Mutter hatte ihr aus dem Brautkleid ein weißes Konfirmationskleid genäht. Da kam ein Paket der Patentante mit einem schwarzen Schneiderkleid. Sie durfte aussuchen und wählte das elegante, schwarze Kleid zum Kummer der Mutter. Soll man die Leute doch nicht aussuchen lassen. Später fühlte sie sich recht schuldig, dass sie Mutter weh getan hatte.
Das Essen in der Familie war denkbar bescheiden. Zum Mittagessen gab es Cocido, das Madrider Nationalgericht: Kichererbsen, Rindfleisch, Speckchorizo, eine Knoblauchwurst mit viel rotem Pfeffer, und Kartoffeln zusammengekocht. Die Brühe wird abgegossen und mit Nudeln zu einer Vorsuppe verwendet. Die anderen Zutaten kommen als 2. Gang auf den Tisch. Und Abends gab es jede Woche Bohnen, Linsen, Erbsen, Bohnen, Linsen, Erbsen… und sonntags Käsebrot. Mutter hatte einmal Pech. Sie erwischte einen winzigen Kanten vom Käse und schnitt ihn in viele, ganz dünne Scheiben, um sich zu trösten, dass sie so wenig hatte. Da lagen sie nun als schöne Fächer auf ihrem Teller, und sie freute sich. Da sagte die Mutter: ” Du warst aber unbescheiden”, und nahm ihr die Hälfte auch noch vom Teller.
Ich riet Mutter mal, für unsere Jungen Manchesterhosen anzuschaffen. Meine Klassenkameraden trugen solche, und die hielten gut. Aber Mutter wollte nicht. Die Jungens in ihrer Kindheit hätten solche Hosen getragen und der Stoff hätte so einen strengen Geruch.
Wenn größere Versammlungen sind, sind Pastors Kinder immer dran. So ging es Mutter auch. Es war ein großer Konvent oder evangelischer Kirchentag in Madrid. Da sollten sich die evangelischen Spanier aus allen Provinzen kennen lernen. Da mussten besonders die Leute vom Lande am Bahnhof abgeholt werden. Ein Herr schrieb, als Erkennungszeichen würde er eine Bibel in der Hand halten. Ihm schiene das das passende Erkennungszeichen für evangelische Christen zu sein. Auch sei er ein klitzekleines bisschen hässlich. Mutter zog los und fand ihn auch, aber er schien ihr doch sehr hässlich. Er hatte eine verstümmelte Nase und ein großes Feuermal im Gesicht. Auch war er sehr schwerhörig. Deswegen hatte er auch so eine besonders laute Stimme, und sie musste auch brüllen. Sie fasste ihn unter und brachte ihn mit der Straßenbahn ans andere Ende der Stadt. Er interessierte sich für alles, und Mutter musste ihm mit großer Lautstärke alles erklären. Sie glaubte sich von allen Menschen angestarrt. Keine Reise ist ihr je so lang geworden wie diese Straßenbahnfahrt.
Unser Großvater war sehr tierlieb und so bekam er öfter seltene Tiere geschenkt u. a. auch ein Äffchen, ein Weibchen. Onkel Hans sollte die Kiste holen. Da musste er durch den Zoll an den Madrider Stadttoren. Es war Sitte, die Zöllner zu ärgern, wie man nur konnte. Er wurde nun gefragt, ob er Fleisch in der Kiste hätte? ”Jawohl, lebendes.” Da fasste der Zöllner in das Luftloch und wurde toll in die Hand gebissen. Das Tier liebte die Großmutter und Onkel Hans, aber die, die vor ihr Angst hatten, bedachte sie mit allerhand Schabernack, am liebsten sprang sie auf den Kopf, krallte sich in den Haaren fest und fing zu springen an. Die schön dekorierten Ostereier, die als Schmuck auf dem Buffet standen, knackte sie eins nach dem anderen und warf sie fort, denn mit dem getrockneten, verdorbenen Inhalt konnte sie nichts anfangen. Onkel Martin war damals ein Baby. Sie setzte sich neben die stillende Großmutter und sah ihr beseeligt zu. Auch hütete sie das Baby in seiner Wiege. Der Kleine hatte die Äffin auch recht gern. Eines Tages trug ihn eine der Hausgehilfinnen und erschrak vor der Äffin und schrie auf. Der Kleine fing an zu weinen. Da hat die Äffin sich abgewandt, ihm nie etwas getan, aber ihn auch nicht mehr angeguckt. Eigentlich war es gut, denn sie ist bald an TBC gestorben.
Die Großmutter machte ihr warme Jacken. Die ließ sie sich gerne anziehen. Wenn es ihr zu warm wurde, zog sie das Zeug aus und zerfetzte es. Ein Sport von ihr war auch, oben auf der Gardinenstange zu sitzen und von dort aus ”unliebsame” Personen anzufauchen. Im Zimmer des Großvaters waren auch zwei Chamäleons. Da musste man immer klopfen, wenn man etwas bei ihm zu besorgen hatte, bis der Großvater wusste, wo die Tiere waren, und man sie nicht gefährdete. Wenn die Tiere verendeten, wurden sie ausgestopft und kamen ins ”Museum”. Da gab es auch viele Raritäten, sogar winzige Schuhchen von Chinesinnen, herrlich bestickte ” Folterinstrumente”.