Hildegund hat dieses nach Erzählungen von ihrer Schwiegermutter selbst aufgeschrieben:
Kurts Vater Wilhelm konnte sich nach dem Tod seiner ersten Frau keine bessere Mutter für die Kinder denken als die Schwester der leiblichen Mutter, Agnes Moeller.

Er verlobte sich mit ihr in den Trauertagen. Statt diese Verlobung geheim zu halten, meinte Agnes, es wäre sittenwidrig, wenn ein verlobtes Paar unverheiratet zusammen wohnte. Vielleicht scheute sie sich auch, in den Haushalt ihrer Schwiegermutter einzuheiraten, hatte Angst vor dem Ungewohnten, was da auf sie zukam. So blieb sie erstmal als Lehrerin in Wiesbaden, lebte äußerst bescheiden und sparte für die Ausbildungen der Kinder. Als schließlich die Wilhelms Mutter Bertha geb. Kegel, 1917 verstarb, wurde es Zeit, dass sich die Braut Agnes endlich zur Heirat entschloss oder ihn freigab, dass er sich nach einer anderen Frau und Mutter für seine heranwachsenden Kinder umsah. So heirateten sie im Oktober 1917 bei Schubrings in Berlin. Die vier Kinder wurden nicht einbezogen, sie hätten vielleicht eine Hochzeit gern mitgefeiert.
Dann kam Agnes als Mutter nach Rackith. Kurt sagte, als Tante hätten sie sie schon gemocht, hätten sich gefreut, wenn sie zu Besuch gekommen wäre, hätten es aber auch genossen, wenn sie wieder verschwand, weil sie sich sehr in ihre Angelegenheiten eingemischt hätte. Nun sollte sie für immer bei ihnen bleiben!
Hans und Kurt wurden zu Bettnässern. Agnes schob es auf die mangelnde Erziehung der alten Großmutter und glaubte nicht, dass sie vorher durchaus sauber gewesen waren. Die Kinder mussten morgens ihr Bettzeug bei offener Hoftür neben dem Haus zum Trocknen ausbreiten.
1917 war der Kohlrübenwinter. Es gab nahezu nichts zu essen, nichts anzuziehen, die Herren hatten Papierhemden, kaum Medikamente. In solcher Lage ohne Kenntnisse mit dem Haushalt anzufangen und dazu der Vorstellung, dass „macht man alles mit links“ war schlimm.
Mutter Agnes entschloss sich, statt Lebensmittelmarken anzufordern, lieber ein Schwein zu schlachten. Fleischer Boas in Rackith war bereit, ihr zu helfen. Ihr Mann kümmerte sich um nichts. So gab es dann ein Schlachtfest, einen „unendlichen“ Vorrat appetitlicher Sachen und eine lange Zeit knappen Essens lag hinter ihnen. Da machten sie sich dran und die Dauerwurst schmeckte so viel besser als die frische. Sie taten sich keinen Zwang an und als die harte Sorte alle war, stellten sie fest, dass die ganze frische verdorben war und fort musste. Woher hatte sie denn wissen sollen, dass die frische Wurst sich nicht hält. Eine Räucherkammer gab es im Haus nicht. Der Speck hing im sogenannten Vorraum, dem Raum vor dem Plumsklo, wo auch die Pumpe 1938 war. Später war die in die Küche verlegt worden.
Frau Boas hatte den Speck sehr lose und sehr „unordentlich“ gegen die Fliegen in Gaze eingehüllt. Das war für die wirklich sehr ordentliche Frau nicht anzusehen. Sie nahm alles ab und wickelte ganz stramm um die Speckseiten. Da konnten die Fliegen aber mit ihren Legestacheln gut an den Speck heran. Als Mutter es merkte, hatten die Maden schon sehr viel fortgefressen. Frau Boas half ihr dann, dass bisschen zu retten, was noch zu retten war, und sie haben es zu einem Schmalztöpfchen ausgelassen. Woher hätte sie wissen sollen, wie man es macht, wenn es ihr niemand sagte?! – Sie seien nun viel schlechter dran gewesen, als mit normalen knappen Lebensmittelmarken.

Es gab das Jahr eine großartige Apfelernte, besonders die Winteräpfel. Die lagen in der Apfelkammer und reiften, mussten aber ab und zu durchgesehen und die verdorbenen aussortiert werden. Das scheint jedem Menschen normal. Bei dieser Arbeit bekam sie Angst, dass die Äpfel alle verderben könnten. Sie entschloss sich, „Rheinisches Apfelkraut“ zu kochen. Sie wusste nicht, dass dies aus süßen, überreifen Sommeräpfeln gemacht wird. Sie machte sich dran, zerschnitt den ganzen Vorrat und fing an, ihn in der Waschküche zu kochen, wissenschaftlich genau nach Kochbuch. Aber es wurde nichts. Es dickte nicht ein. Schließlich war der Holzvorrat alle. Da füllte sie das Zeug in Töpfe und die Familie musste den Brotaufstrich essen. Kurt sagte, er hätte wie Essig geschmeckt. Da wollte Großvater nach seinen Äpfeln sehen und fand sie nirgends. Da erfuhr er, dass sie zu Apfelkraut verarbeitet waren (was hilft es, dass wir alle Morgen, beseufzen unser Eingemach). Dann war es so kalt, dass sie wenigstens das Arbeitszimmer und ein Wohnzimmer heizen mussten. Da wollte er ihr das Heizen beibringen und fragte nach dem Winterholzvorrat. Sie konnte nur sagen, dass er beim Apfelkraut verbraucht worden war. Mutter Agnes war verzweifelt über die Arbeit, die sei übernommen hatte.
Als ich sie fragte, ob ihr die eingeweihten Dienstmädchen nicht geholfen hätten, staunte sie über mich: „Wo denn da ihre Autorität geblieben wäre?“
Dann musste sie auch noch erleben, dass das schöne, für die Ausbildung der Kinder gesparte Geld der Inflation zum Opfer fiel.

Von Vater ist sie auch nicht gut behandelt worden. Sie bekam kein Geld in die Hand. Eingekauft wurde mit einem Kontoheft, wo der Händler die Ware und den Preis eintrug, und der Hausherr Ende des Monats nachrechnete und zahlte.
Sie hat auch nie einen Pfennig Taschengeld oder Nadelgeld, was ihr auch nach den ältesten Gesetzbüchern nach zustand, bekommen. Nadelgeld war die Bezeichnung für das Geld, was die Frau brauchte, um ihre verbrauchte Kleidung zu ergänzen. Sie erzählte voll Stolz, dass sie dem Mann nur die Verpflegung gekostet hätte! Die Freundinnen aus Wiesbaden schenkten Abgelegtes.
Kurt erzählte, schlimm wäre es gewesen, wenn ihre so extrem tüchtige Mutter zu Besuch gekommen wäre und alles verkehrt gefunden hätte, was sie tat, geschimpft hätte über die zerlumpte Kleidung der Kinder bis hin zu den ungepflegten Wohnräumen und dem verkommenen Garten, der aber des Ressort des Vaters gewesen ist. Das Geschimpfe der Großmutter und das Schluchzen der Mutter, wäre nicht zu ertragen gewesen.
